| Lehrbildreihe Kugelstoßen

Yemisi Ogunleye – erfolgreich mit dem Drehstoß

© IMAGO - Chai van der Laage
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Mit insgesamt drei Versuchen über 19 Meter – den weitesten davon auf 19,31 Meter – war Kugelstoßerin Yemisi Ogunleye eine der positiven Überraschungen des Pfingstwochenendes 2023. Sie setzt auf die Drehstoßtechnik, die international immer mehr zum Standard wird und bei den Männern dem US-Amerikaner Ryan Crouser in diesem Jahr zu einem neuen Weltrekord verholfen hat. Bundestrainer Wilko Schaa beleuchtet die Technik der Mannheimerin.
Wilko Schaa

 

Die Lehrbildreihe unten in der Bildergalerie zeigt Yemisi Ogunleye mit einem Versuch auf 18,53 Meter bei den Werfertagen 2023 in Halle. Da von den 19-Meter-Versuchen in Rehlingen keine adäquaten Aufnahmen vorliegen, werden anhand dieses Versuches die aus meiner Sicht wesentlichen Elemente ihrer Technik beschrieben.

Ausgangsposition bis Umkehrpunkt

In der Ausgangsposition nimmt Yemisi Ogunleye einen breiten Stand mit deutlicher Kniebeugung und einer leichten Vorlage des Oberkörpers ein. Die Kugel wird mit weit zurückgehaltener Stoßschulter hinter dem rechten Ohr im Bereich des Hinterhauptbeins positioniert. Der gestreckte linke Arm wird auf Höhe der leicht vorgedrehten Schulterachse entgegengesetzt zur Stoßrichtung gehalten. Diese Position sichert nicht nur einen sicheren Stand, sondern erzeugt aufgrund des großen Abstands der Teilkörpermassen vom Körperschwerpunkt (linker Arm, breite Fußstellung) ein hohes Massenträgheitsmoment, welches für die Gestaltung der nachfolgenden Andrehphase von Bedeutung ist. Aus der Ausgangsposition heraus leitet Yemisi Ogunleye eine kontrollierte Ausholbewegung durch eine Körperlängsachsendrehung um ca. 45 Grad nach rechts ein. Dabei wird der Körperschwerpunkt nicht wie häufig angestrebt begleitend auf das rechte, sondern durch eine der Ausholbewegung entgegenwirkende Abdruckbewegung des rechten Beins in Richtung des linken Beins verschoben.

Umkehrpunkt bis Lösen rechts

Der Körperschwerpunkt befindet sich bei Erreichen des Umkehrpunkts nahezu vollständig über dem linken Bein (s. Bild 1). Das bietet den Vorteil, unmittelbar mit Beginn des Andrehens das Gesamtsystem Sportler-Kugel in Rotation versetzen zu können, ohne eine nennenswerte Translationsbewegung in Richtung des linken Beins generieren zu müssen. Diese Strategie ist in der Weltspitze immer häufiger zu beobachten und wird bei den Frauen z. B. von Sara Mitton praktiziert.

Yemisi Ogunleye leitet die Andrehbewegung nahezu vorbildlich durch das unmittelbare Eindrehen des linken Fußes auf dem Ballen ein. Zeitgleich wird der linke Arm gestreckt in Verlängerung der Schulterachse auf einer weiten Kreisbahn über dem linken Knie geführt. Dabei gelingt es der Athletin, die tiefe Ausgangsposition mit gestrecktem linkem Arm und leichter Oberkörpervorlage nahezu vollständig bis zum Lösen rechts zu halten und sich nicht übermäßig herauszuheben oder den Bewegungsradius zu verkürzen (s. Bilder 1–3). Das so erhaltene Massenträgheitsmoment ermöglicht es, das Andrehen mit nicht sehr hoher Geschwindigkeit auszuführen und dabei dennoch einen relativ hohen Drehimpuls zu erzeugen. Die niedrigere Geschwindigkeit macht es für Yemisi Ogunleye jedoch zunächst einfacher, einen kontrollierten Eingang in den Bewegungsablauf zu finden. Der Bewegungseingang stellte in der Vergangenheit ein wesentliches Problem in der Technik von Yemisi dar und ist nun deutlich besser gelöst.

Lösen rechts bis Setzen rechts

Da Yemisi Ogunleye den rechten Fuß während des Andrehens lange stehen lässt und die linke Seite konsequent vorgedreht wird, erfolgt das Lösen des rechten Fußes mit weit geöffneter Hüfte (s. Bild 3). Das rechte Bein folgt dem in Rotation befindlichen Gesamtsystem mit etwas Verzögerung und wird bei weiterhin offener Hüfte „hinterhergeschleppt“. In dem Moment, in dem der linke Arm und die Körperfront in Stoßrichtung weisen, hat der rechte Fuß den Hochpunkt seiner Bewegungsbahn erreicht (s. Bild 4). Der nun folgende Einsatz des rechten Beins als Schwungelement erfolgt unter Nutzung der im Bereich der Hüftmuskulatur entstandenen Vorspannung auf einer zum Boden geneigten Kreisbahn. Während der linke Fuß nicht mehr weiterdreht und ein Widerlager am Boden bildet, führt Yemisi Ogunleye das rechte Bein pendelartig bei zunächst gestrecktem Kniegelenk von oben nach vorne unten. Nach Passieren des Standbeins wird das Kniegelenk leicht gebeugt und das Bein abgebremst. Der zeitgleich einsetzende Abdruck aus dem linken Bein erfolgt vorwiegend aus dem Hüftgelenk in Stoßrichtung. Da der Oberkörper und der linke Arm in dieser Phase ruhig in Richtung bzw. quer zur Stoßrichtung gehalten werden, gelingt es durch Impulsübertragung auf das Schwungbein, die zunächst rotatorische Bewegung in eine translatorische Bewegung zum Stoßbalken umzulenken. Im Ergebnis nimmt Yemisi Ogunleye eine beim Lösen des linken Beins frontal zur Stoßrichtung ausgerichtete Position mit weiterhin erhaltener Oberkörpervorlage ein (s. Bild 5).

Setzen rechts bis Setzen links

Das Setzen des rechten Fußes erfolgt relativ mittig im Ring. Das linke Bein ist anforderungsgemäß im Begriff, das rechte Bein zu überholen, der linke Arm wird weiterhin in Verlängerung der Schulterachse gehalten und der Oberkörper bleibt in Vorlage (s. Bild 6). Der rechte Fuß und damit das Gesamtsystem ist in dieser Position etwas zu weit herumgedreht. Erstrebenswerter wäre hier eine Fußposition quer (270°) und eine Ausrichtung der Hüftachse senkrecht zur Stoßrichtung. Das könnte u. a. durch einen noch flacheren Umsprung und ein aktiveres Herunterbringen des rechten Beins zum Fußaufsatz („Boden attackieren“) realisiert werden. Videoaufnahmen von Yemisi Ogunleyes 19,31-Meter-Stoß in Rehlingen lassen erkennen, dass dies dort besser gelungen ist.

Dennoch wird auch beim in der Lehrbildreihe gezeigten Versuch eine zweckmäßige und stabile Position beim Fußaufsatz eingenommen, in der auch aufgrund der zuvor durch den Schwungbeineinsatz gelungenen Impulsübertragung auf dem rechten Fuß weitergedreht wird. Als Ausdruck dessen passiert die linke Seite zügig die rechte mit zeitnahem Setzen des linken Beins. Durch den weiterhin lang gehaltenen linken Arm besitzt der Körper eine große Massenträgheit, was das Zurückbleiben der Schulterachse und das Überholen der Hüftachse begünstigt. Die damit entstehende Verwringung zwischen Hüft- und Schulterachse ermöglicht das Zurückbleiben des Stoßarmes und den Aufbau von Vorspannung im Bereich der Rumpfmuskulatur (s. Bilder 6 – 8).

Setzen links bis Lösen Kugel

Mit dem Setzen des linken Beins wird die Stoßauslage eingenommen (s. Bild 8). Durch die vorangegangenen Bewegungsphasen ist es Yemisi Ogunleye gelungen, die Oberkörpervorlage bei Lösen links (s. Bild 6) in eine adäquate Rücklage umzuwandeln. Da der Scheitelpunkt des Kopfes seine räumliche Lage bei diesem Vorgang von Lösen links bis Setzen rechts kaum verändert hat, ruht der Körperschwerpunkt bei Setzen links optimal über dem rechten Bein und das rechte Knie befindet sich über dem rechten Fußballen. Kugel und Stoßarm bleiben verzögert zurück und der weiterhin gestreckte linke Arm zeigt in Richtung des Betrachters (s. Bild 8). Aus dieser nahezu optimalen Position heraus schafft es Yemisi Ogunleye, durch das Gegenhalten des Stemmbeins lange über dem rechten Fuß zu bleiben und zunächst die rechte Seite bei verzögerter Stoßarmseite weiter vorzudrehen (s. Bilder 8 – 10). Während sie in der Vergangenheit häufig zu zeitig die Position über dem rechten Fuß verloren hat, arbeitet sie nun in Folge der verbesserten Interaktion von Druck- und Stemmbein die rechte Hüfte effektiver gegen das linke Bein in Stoßrichtung. Der Ausstoß bekommt dadurch eine hohe rotatorische Komponente und erlaubt die Einbeziehung der starken Rumpfrotatoren. Beide Füße behalten dabei relativ langen Bodenkontakt („connection to the ground“), was günstige Bedingungen für die Impulsübertragung schafft. Der linke Arm läuft weiter mit dem System auf einer weiten Kreisbahn, ohne jedoch die linke Seite wegzureißen und die Impulsübertragung auf den Oberkörper und das Gerät zu unterbrechen.

Erst als die Hüfte senkrecht zur Stoßrichtung steht, wird der Stoßarm als Folge der sich „entladenden“ Spannung im Rumpf- und Schulterbereich eingesetzt. Den Kontakt der Füße zum Boden verliert Yemisi Ogunleye erst, als sich die Kugel in Folge der einsetzenden Stoßarmstreckung vom Hals löst. In der stützlosen Phase arbeitet die gesamte rechte Seite um den stehenden linken Block herum in Stoßrichtung (s. Bilder 11 – 12). Als Ausdruck der gut getroffenen Kugel und gelungenen Energieübertragung bremst Yemisi Ogunleye die verbleibende Restenergie des Körpers durch ein Umsetzen der Beine problemlos ab und gestaltet den Versuch gültig.

Der komplette Beitrag mit weiteren Infos zum Training von Yemisi Ogunleye – beschrieben von Heimtrainerin Iris Make-Reimers – ist in leichtathletiktraining 7/2023 erschienen. 

 

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